Der junge Kanzler Sebastian Kurz konnte während der Nationalratssitzungen im österreichischen Parlament oft dem Drang nicht widerstehen, sich weniger mit den Reden der Opposition als mit dem Handy zu beschäftigen. Er spiele wohl die ganze Zeit “Candy Crush”, ätzte einmal der sozialdemokratische Fraktionschef Jörg Leichtfried vom Rednerpult aus hinüber zur Regierungsbank.
Mit fast ungläubiger Miene verfolgte Kurz die Angriffe der Sozialdemokraten, von seinem Ex-Koalitionspartner FPÖ und der Liste Jetzt, einer Abspaltung der derzeit nicht im Parlament vertretenen Grünen. Nur die kleine liberale Partei der Neos stimmte nicht für den Rauswurf der Regierung.
Seit Montagabend steckt Österreich – eines der wohlhabendsten Länder der EU ohne große soziale Verwerfungen – nun in einer Regierungskrise, die Verfassungsrechtler bis ins Detail sezieren.
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Alle namhaften Vertreter dieses Wissenschaftszweigs werden seit Tagen im TV interviewt. Der Erklärungsbedarf ist groß, weil die Lage wegen der großen Befugnisse, die der Bundespräsident in Österreich genießt, komplex ist: Alexander Van der Bellen musste nun in kurzer Zeit – es gibt keine Vorgaben in der Verfassung, aber mehr als drei Tage sollten es nicht sein – einen Bundeskanzler ernennen.
Er hatte dabei völlig freie Hand: Der Kandidat muss nur wahlberechtigt und darf seit einem halben Jahr nicht im Gefängnis gesessen haben. Er entschied sich vorerst für Vizekanzler und Finanzminister Hartwig Löger. Er soll amtieren, bis eine Übergangsregierung gebildet ist.
Ein Richter als Übergangskanzler?
Der Interimskanzler muss dem Präsidenten eine Ministerliste vorlegen, wobei der einzelne Kandidaten ablehnen kann. Danach braucht diese Liste allerdings eine Mehrheit im Nationalrat, weil sonst auch diese Regierung per Misstrauensvotum nach Hause geschickt werden könnte.
Bis Mittwoch dürfte der Präsident die Ernennung eines Übergangsregierungschefs mindestens hinauszögern, weil sich am Dienstag die EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel treffen, um über die Vergabe der EU-Spitzenämter zu streiten. Dort jemand hinzuschicken, der noch nicht einmal seinen Schreibtisch bezogen hat, wäre nicht ratsam. Statt Kurz soll nun Löger nach Brüssel fahren, der danach aber wohl nur noch ein, zwei Tage im Amt bleiben wird.
Das Misstrauensvotum gegen Kurz ist der dramatische Höhepunkt der Ibiza-Affäre, die Österreich seit knapp zwei Wochen in Atem hält. Nach dem Bekanntwerden des Ibiza-Videos hatte Kurz nicht nur den Rücktritt der beiden Protagonisten, FPÖ-Vizekanzler Heinz-Christian Strache und Fraktionschef Johann Gudenus, verlangt, sondern auch jenen von FPÖ-Innenminister Herbert Kickl. Die FPÖ war bereit, Strache und Gudenus gehen zu lassen. Nicht aber den in der teils rechtsradikalen Partei äußerst beliebten Innenminister Herbert Kickl. Er wurde zu einer Sollbruchstelle der Kurz-Regierung.
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Doch wie konnte es zu dem Misstrauensvotum kommen? Die sozialdemokratische Parteivorsitzende und Spitzenkandidatin Pamela Rendi-Wagner – eine junge Ärztin, aber kein politisches Schwergewicht – konnte sich nicht dazu durchringen, eindeutig Neuwahlen zu fordern. Auch als Kurz dem Bundespräsidenten fünf Expertenminister seiner Wahl als Ersatz für die FPÖ-Posten präsentierte und dieser die vom ÖVP-Kanzler Nominierten sofort akzeptierte, muckte sie nicht öffentlich auf.
Dabei hatten sich die Sozialdemokraten bei der Präsidentenwahl 2016 für Van der Bellen eingesetzt, der früher Bundesprecher der Grünen war. Warum jetzt dieser so schwungvolle Pas-de-deux Van der Bellens mit dem rechtspopulistischen Kanzler? Warum hat der Bundespräsident die Sozialdemokraten nicht auch nach ihrer Meinung gefragt?
All das mag sein. Ein pragmatischerer Grund für den Misstrauensantrag könnte aber sein: Kurz soll im Wahlkampf nicht über einen Kanzlerbonus verfügen. Die üppigen Personalressourcen, die sein Kanzleramt birgt – er hat etwa 150 ausschließlich mit Kommunikation betraute Helfer – stehen ihm nun im Wahlkampf nicht zur Verfügung.
Blendende Beliebheitswerte für Kurz
Dennoch fährt die SPÖ eine kurzsichtige Strategie: Kurz ist zwar jetzt nicht mehr Kanzler, aber er hat in allen Umfragen blendende Beliebtheitswerte. Bei den Europawahlen am Sonntag gewann seine ÖVP gleich acht Prozentpunkte hinzu und liegt mit 35 Prozent nun elf Prozentpunkte vor den Sozialdemokraten. Nur Wien ist tiefrot geblieben. Warum sollte Kurz Neuwahlen fürchten? Bis zur Wahl im September kann er nun in die Rolle des Märtyrers schlüpfen und große Auftritte hinlegen.
Am vergangenen Sonntag bekam er von den überzeugten FPÖ-Wählern so viele Vorzugsstimmen, dass ihm nun ein Mandat zusteht. Ob er es aber tatsächlich annimmt, ist noch nicht bekannt: Montagabend postete er auf Facebook, er werde nach Brüssel gehen, löschte die Meldung aber einige Minuten später.