Es war gegen halb fünf nachmittags, als sich der Himmel vor der Lockheed Electra bedrohlich verfinsterte. Die Crew der viermotorigen Maschine bat die Flugverkehrskontrolle, das vor ihnen aufgetauchte Unwetter westlich umfliegen zu dürfen. Der Fluglotse meinte, alle anderen Flüge nähmen eine östliche Route – doch die Besatzung von Braniff Flug 352 bestand auf ihrem Weg. Als das Wetter immer schlimmer wurde und der Fluglotse erneut die Umleitung nach Osten empfahl, sagte Kapitän John R. Philipps seinem ersten Offizier: “Rede nicht zu viel mit ihm. Er will nur, dass wir zugeben, einen großen Fehler begangen zu haben.”
Der Fluglotse sollte Recht behalten. Auf dem Stimmenrekorder der Electra war noch zu hören, wie Kapitän Philipps eine Kehrtwende einleitete. Doch es war zu spät. Die Electra wurde während des Manövers von Turbulenzen erfasst und zerbrach in der Luft. Alle 85 Menschen an Bord starben.
Das Unglück vom 3. Mai 1968 liegt inzwischen fast ein halbes Jahrhundert zurück – aber es könnte zum Teil erklären, was gerade beim Brexit schiefläuft. Denn an beiden scheint der gleiche psychologische Prozess beteiligt zu sein.
David O’Hare, Professor an der University of Otago in Neuseeland, nennt das Flugzeugunglück in einer 2009 erschienen Studie als Beispiel für die sogenannte Neue Erwartungstheorie. Sie wurde 1979 entwickelt, 2002 mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet und gilt als bestens belegt. Sie besagt, dass Menschen Risiken scheuen, solang ein sicherer Gewinn winkt. Droht allerdings ein Verlust, sind sie plötzlich zu hohen Risiken bereit, um ihn abzuwenden.
Verlustrisiko macht risikofreudig
O’Hare verdeutlicht das in seiner Studie an einem Beispiel: Bietet sich die Wahl zwischen einem sicheren Gewinn von 80 Dollar oder einer 85-prozentigen Chance auf 100 Dollar (bei 15 Prozent Risiko des Totalausfalls), so entschieden sich die meisten Menschen für die sicheren 80 Dollar. Das ist aber nicht so, wenn man das Beispiel einfach umdreht: Sind sie vor die Wahl gestellt zwischen einem sicheren Verlust von 80 Dollar und der 15-Prozent-Chance auf gar keinen Verlust, wählten die meisten Menschen das Risiko – trotz der 85 prozentigen Wahrscheinlichkeit, am Ende sogar 100 Dollar zu verlieren.
Die Parallelen zwischen dem Flugzeugunglück und dem Brexit liegen auf der Hand: Die Aussichten auf einen Erfolg verdüstern sich zusehends, stattdessen zeichnet sich am Horizont eine drohende Katastrophe ab. Doch die britische Politik hält eisern Kurs auf den Brexit; einflussreiche Stimmen für eine Kehrtwende gibt es praktisch nicht.
O’Hare sieht hier einen ähnlichen Mechanismus am Werk wie beim Absturz der Electra vor fast 50 Jahren. Bei einer Kehrtwende wäre den Piloten einiges Ungemach sicher gewesen, “etwa eine Landung auf einem anderen Flughafen oder ein lädierter Ruf”. Ähnliches gilt beim Brexit: Würden die Briten ihn abbrechen, wäre wohl der in der EU einzigartige Rabatt auf Haushaltsbeiträge perdu, ebenso wie eine gehörige Portion Nationalstolz und jede Menge politisches Kapital.
Rein mathematisch betrachtet wäre das aber vermutlich immer noch die vernünftige Variante – denn die Verluste, die ansonsten drohen, reichen von der Abwanderung zahlreicher Unternehmen bis hin zum Niedergang der Londoner Finanzwirtschaft.
“Politiker finden Kehrtwenden unattraktiv”
Doch es gib da auch noch die andere Möglichkeit – vielleicht ist sie nur klein, aber immerhin: Nichts davon tritt ein und der Brexit wird tatsächlich ein glänzender Erfolg. Und da sichere Verluste den Menschen erwiesenermaßen ein Graus sind, sagt die Neue Erwartungstheorie laut O’Hare voraus, dass die Briten weiter auf Brexit-Kurs bleiben – “ungeachtet immer größer werdender potenzieller Verluste”.
In der Politik könnte dieser Effekt sogar noch stärker ausgeprägt sein als anderswo: “Politiker legen tendenziell besonders großen Wert darauf, konsistent, stabil und stark zu wirken”, meint O’Hare. “Kehrtwenden finden sie besonders unattraktiv.” Wie sehr das gilt, verdeutlichte etwa die britische Premierministerin Margaret Thatcher 1980, als sie ihren Tory-Parteifreunden in einer heute berühmten Rede versicherte, für Kurswechsel nicht zur Verfügung zu stehen: “The lady’s not for turning.”
Daniel Kahneman und Amos Tversky, die Entwickler der Neuen Erwartungstheorie, wiesen 1979 noch auf einen weiteren Umstand hin, der beim Brexit ebenfalls eine erhebliche Rolle zu spielen scheint: Menschen tendieren dazu, ihre Ziele nicht vom Ende her zu denken, sondern sie mit einem bestimmten Punkt zu vergleichen.
Üblicherweise ist das der aktuelle Zustand. Es kann aber auch eine erwartete Veränderung sein, wie etwa eine goldene Brexit-Zukunft. Alles, was diese Erwartung am Ende unterschreitet – selbst wenn es ein kleinerer Gewinn ist – , “würde psychologisch wie ein Verlust behandelt”, schreibt O’Hare in seiner Studie. Dass das Kabinett von Premierministerin Theresa May erst Mitte Dezember erstmals über das erwünschte Brexit-Endergebnis debattiert hat, lässt vor diesem Hintergrund wenig Gutes ahnen.
Allerdings gibt es, wie O’Hare gegenüber dem SPIEGEL anmerkt, zumindest einen wichtigen Unterschied zwischen dem Brexit und dem Flugzeugcrash von 1968: Ein Pilot ist von den negativen Folgen seiner Entscheidungen ebenso betroffen wie seine Passagiere, meint der Psychologe. “Beim Brexit gilt das wahrscheinlich nicht.”