Monatelang brütete EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger über dem Entwurf für den nächsten Mehrjahreshaushalt der EU, am Mittwoch war er endlich fertig. Wer aber sollte ihn zuerst zu sehen bekommen? Das schien die EU-Kommission plötzlich selbst nicht mehr so genau zu wissen: Erst sollte Oettinger am Mittag eine Pressekonferenz halten, in letzter Sekunde dann entschied sich Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, zuerst höchstpersönlich das EU-Parlament zu unterrichten.
In dessen Brüsseler Plenum wählte Juncker große Worte. “Es geht um die Zukunft, die wir den nächsten Generationen hinterlassen werden”, sagte der Luxemburger. Wie die aussieht, wird aber womöglich erst in Monaten oder gar Jahren feststehen. Denn eines scheint klar: Die Verhandlungen über den neuen Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR), der von 2021 bis 2027 gelten soll, werden so hart wie noch nie.
Beim letzten Mal brauchte es gute zwei Jahre, bis es Ende 2013 endlich eine Einigung gab – praktisch in letzter Sekunde vor dem Auslaufen des alten Budgets. Jetzt aber droht der Kampf noch härter zu werden, und zwar vor allem aus drei Gründen:
– Der Austritt Großbritanniens reißt eine Lücke von jährlich zwölf Milliarden Euro ins EU-Budget.
– Zugleich muss die EU neue Aufgaben schultern, etwa beim Schutz ihrer Außengrenzen oder der gemeinsamen Verteidigung. Oettinger rechnet mit Mehrausgaben von acht bis zehn Milliarden Euro.
– Zum Schutz des Rechtsstaats plant Oettinger die Einführung eines Mechanismus, der Staaten wie Polen und Ungarn mit dem Entzug von EU-Geldern bedroht.
Eine Hälfte der Einbußen durch den Brexit und der Mehrausgaben will Oettinger mit frischem Geld ausgleichen. Die EU-Staaten sollen deshalb künftig 1,11 statt bisher ein Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts nach Brüssel überweisen. Schon damit sind einige Staaten nicht einverstanden. Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz übte scharfe Kritik an Oettingers Forderungen, noch bevor er sie präsentiert hatte. Auch die Niederlande, Schweden und Dänemark gelten als skeptisch. Deutschland hat sich zwar grundsätzlich bereiterklärt, mehr zu zahlen – allerdings nur, wenn sich die EU auf “Aufgaben der Zukunft mit europäischem Mehrwert” konzentriert. Was genau das heißt, ist unklar.
Agrar- und Strukturhilfen sollen gekürzt werden
Die zweite Hälfte der Finanzlücke will Oettinger durch Einsparungen füllen. Ins Visier nimmt er vor allem die beiden größten Posten im EU-Haushalt: die Hilfen für Landwirte und strukturschwache Regionen, die zusammen rund zwei Drittel des aktuellen Etats von rund 145 Milliarden Euro pro Jahr verschlingen. Bei den EU-Agrarhilfen – derzeit etwa 58 Milliarden Euro jährlich – sollen unter dem Strich fünf Prozent gekürzt werden. Die sogenannten Kohäsionsfonds – den wichtigsten Strukturhilfen der EU – sollen um sieben Prozent schrumpfen. Damit dürften vor allem Länder mit starker Landwirtschaft wie etwa Spanien und Frankreich Probleme haben.
Kürzungen bei der Kohäsionspolitik, die Unterschiede zwischen armen und reichen EU-Staaten ausgleichen soll, würden zwar auch strukturschwache Regionen in reicheren Ländern treffen, darunter in Deutschland. Am weitaus stärksten betroffen aber wären die östlichen Mitgliedstaaten. Polen etwa hat nach Zahlen der Kommission von 2015 bis 2017 mehr als 60 Prozent seiner öffentlichen Investitionen mit EU-Geldern bestritten. In Ungarn waren es 55 Prozent.
Hinzu kommt, dass solche Mittel nicht nur aus reinen Spargründen gekürzt werden sollen. Die Kommission schlägt auch einen Mechanismus vor, der die Auszahlung von EU-Mitteln stärker an die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards knüpft. Die nationalkonservativen Regierungen Polens und Ungarns, die wegen der Aushöhlung demokratischer Grundwerte im Dauerstreit mit der EU-Kommission liegen, dürften das als direkten Angriff empfinden – und das zu Recht.
Neuer Strafmechanismus: Polen würde sanktioniert
Kritiker wenden ein, dass ein solcher Schritt die Spaltung zwischen West und Ost weiter vertiefen würde und außerdem unrealistisch sei. Denn der Haushalt muss am Ende einstimmig von allen Mitgliedsländern verabschiedet werden. Polen und Ungarn, so hieß es bisher, würden kaum für ihre eigene Bestrafung stimmen.
Die EU-Kommission versucht die Veto-Gefahr nun mit einem Mechanismus zu umgehen, der vom eigentlichen Haushalt getrennt ist. Er funktioniert so: Stellt die Kommission eine systematische Schwächung der Justiz in einem EU-Staat fest, kann sie dem Rat der Mitgliedstaaten empfehlen, dem betreffenden Land Gelder zu entziehen. Der Rat soll die Entscheidung dem Entwurf zufolge automatisch annehmen – es sei denn, eine qualifizierte Mehrheit von 55 Prozent der EU-Staaten mit 65 Prozent der EU-Bevölkerung ist dagegen. Polen und Ungarn könnten ein solches Votum also nicht gemeinsam verhindern.
Die Kommission lässt keinen Zweifel daran aufkommen, auf wen der Mechanismus derzeit abzielt. Gäbe es die Regelung heute schon, würde Polen sanktioniert, sagte EU-Justizkommissarin Vera Jourová am Mittwoch vor Journalisten. Allerdings sei das derzeit eine “theoretische Diskussion”, da der neue Mechanismus wie auch der neue Haushalt erst ab 2021 gelten würde.
Allerdings geht es bei dem neuen Mechanismus zumindest offiziell nicht mehr um die Einhaltung von EU-Grundwerten, sondern lediglich um die rechtmäßige Verwendung von EU-Geldern. Die Kommission sieht dadurch offenbar größere Chancen, den Mechanismus bei den Mitgliedstaaten durchzubekommen. Man wollte “keine große akademische Phrase” nutzen, sondern “sehr konkret sein”, sagte Jourová. “Wenn die Justiz eines Landes ruiniert, paralysiert und politisiert ist, kann sie nicht unabhängig über Fälle von Betrug, Misswirtschaft oder politische Willkür entscheiden.”