Fast acht Monate lang saß Mesale Tolu in der Türkei in Untersuchungshaft. Nun kommt die deutsche Journalistin unter Auflagen frei. Familie und Freunde sind erleichtert, doch der Prozess geht weiter.
Ali Riza Tolu hat sich auf diesen Moment vorbereitet, hat ihn in Gedanken immer durchgespielt. Doch nun, da seine Tochter Mesale nach siebeneinhalb Monaten aus dem Gefängnis freikommt, ringt er um Fassung.
Tolu hat Tränen in den Augen, als er am Montagmittag vor die Schar aus Verwandten, Freunden, Journalisten tritt, die sich auf dem Flur im Istanbuler Gerichtspalast Caglayan versammelt haben. “Ich danke euch”, sagt er. Seine Stimme bricht. “Heute bin ich der glücklichste Mensch auf der Welt.”
Seit Ende April saß Mesale Tolu, Journalistin aus Ulm, wegen Terrorverdachts in der Türkei in Untersuchungshaft. Nun wurden sie und fünf Mitangeklagte vorerst entlassen. Der Prozess wird im April fortgesetzt. Tolu darf die Türkei bis dahin nicht verlassen, muss sich jeden Montag bei der Polizei melden. “Das Verfahren geht weiter, ja. Aber daran wollen wir im Moment nicht denken”, sagt Ali Riza Tolu. “Wir sind froh und erleichtert, dass Mesale wieder bei uns ist.”
Ali Riza Tolu hat sich in den vergangenen Monaten pausenlos für seine Tochter eingesetzt. Er hat Mesale regelmäßig im Gefängnis besucht und sich zwischenzeitlich um ihren zweieinhalb Jahre alten Sohn Serkan gekümmert. “Wir haben diese Zeit als Familie gemeinsam durchgestanden” sagt er.
Der Prozess im Gerichtspalast Caglayan begann am Montagmorgen mit einer Überraschung: Die Richter hatten die Verhandlung gerade erst eröffnet, Mesale Tolu hatte ein kurzes Statement abgegeben, in dem sie abermals ihre Unschuld bekräftigte, da ergriff der Staatsanwalt das Wort und forderte die sofortige Freilassung von Tolu und ihren fünf Mitangeklagten.
Unter den Prozessbeobachtern im Gericht breitete sich Hoffnung aus. Eine Stunde später riefen die Richter die Angeklagten und ihre Anwälte erneut in den Saal, um die Freilassung der Beschuldigten anzuordnen. Nun brach im Saal Jubel aus.
“#FreeDeniz und alle anderen!”
Auch in Deutschland sorgt die Entscheidung für Erleichterung. “Das ist eine einerseits gute Nachricht mit Blick auf die Tatsache, dass sie wohl freikommen wird. Es ist auf der anderen Seite natürlich noch keine komplett gute Nachricht, weil sie das Land nicht verlassen darf und auch der Prozess noch weitergeführt wird”, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). SPD-Chef Martin Schulz schrieb auf Twitter: “Eine gute, längst überfällige Nachricht: Mesale Tolu kommt frei! #FreeDeniz und alle anderen!”
Die Freilassung Tolus wird in Berlin als ein weiteres Zeichen der Entspannung aus Ankara gedeutet. Bereits im Oktober kam der Berliner Menschenrechtler Peter Steudtner, der ebenfalls über mehrere Monate in der Türkei festgehalten wurde, aus der Haft frei. Von einer Normalität in den deutschtürkischen Beziehungen will trotzdem niemand sprechen. Der Korrespondent der “Welt”, Deniz Yücel, sitzt nach wie vor in Untersuchungshaft. “Der Druck auf die türkische Regierung darf jetzt nicht nachlassen”, mahnt die Linken-Abgeordnete Heike Hänsel, die den Prozess in Istanbul mitverfolgt hat.
Im Büro von Mesale Tolus Anwälten, unweit des Gerichtspalasts, versammeln sich nach dem Prozess am Montagnachmittag ihre engsten Freunde und Verwandten. Sie liegen sich in den Armen, lachen, nehmen am Telefon Glückwünsche entgegen. “Das ist ein erster, großer Schritt”, sagt Kader Tonc, Tolus Anwältin. “Nun hoffen wir, dass im April ein Freispruch folgt.” Derya Oktan, die Chefin der türkischen Nachrichtenagentur Etha, für die Tolu gearbeitet hat, ist sich sicher, dass Tolu schon bald wieder an ihren Schreibtisch zurückkehrt. “Journalismus ist Mesales Leben.”
Am Abend setzt dann noch einmal Verwirrung ein. Ali Riza Tolu fährt mit dem Auto zum Frauengefängnis im Stadtteil Bakirköy, wo Verwandte und Journalisten bereits warten, um Mesale nach der Haftentlassung zu empfangen. Es heißt, dass Mesale Tolu ihre Familie in Bakirköy kurz begrüßen dürfe, bevor sie weiter zur Polizeistation gebracht werde, um letzte Formalitäten zu erledigen.
Mehrere Stunden lang steht Ali Riza Tolu in der Kälte vor dem Gefängnistor, um irgendwann zu erfahren, dass Mesale Tolu doch direkt in einem Auto zur Polizeistation gebracht wird.
Aber widersprüchlichen Anordnungen sorgten nun erneut für Verwirrung auf der Wache. Trotz ihrer gerichtlich angeordneten Entlassung aus der Untersuchungshaft wurde Tolu mehrere Stunden dort festgehalten. Tolus Anwältin Gülhan Kaya sagte vor der Wache, die Antiterroreinheit der Polizei habe Tolus Abschiebung angeordnet. Zuvor hatte das Gericht allerdings ein Ausreiseverbot bis zu einem Urteil in dem Verfahren gegen die Deutsche verhängt.
Es ist Nacht, als ihr Vater sie schließlich in den Arm nehmen kann.