Es stimmt, was Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) in der vergangenen Woche auf einem Treffen europäischer Innenminister konstatierte: Das “Dublin-Verfahren ist gescheitert”. Das ist allerdings keine neue Erkenntnis. Sie hat einen langen Bart, genau wie Seehofers Forderung nach einem einheitlichen europäischen Asylrecht. Das zu wollen ist zwar durchaus vernünftig; aber es bleibt halt nach all den fehlgeschlagenen Versuchen der vergangenen Jahrzehnte nichts als ein politisches Lippenbekenntnis.
Das Dublin-System war schon tot, als es geboren wurde. Dublin, das heißt: Jener EU-Staat, den ein Flüchtling oder eine Migrantin zuerst betritt, ist grundsätzlich für die Registrierung und das Asylverfahren zuständig. Ersteinreiseländer sind vor allem Staaten an den Außengrenzen der Europäischen Union, also in der Praxis insbesondere Griechenland, Italien und Spanien.
Schon als die ersten Dublin-Abkommen Ende der Achtziger-, Anfang der Neunzigerjahre ausgehandelt wurden, wussten alle um dessen Achillesferse: Die Verträge enthielten keinen Verteilungsmechanismus für anerkannte Asylbewerber. Das bedeutet: Die gesamten Lasten müssen – zumindest auf dem Papier – die EU-Außenstaaten so gut wie allein schultern. Sie sollen Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten registrieren und über deren Asylanträge entscheiden, sie sollen die Schutzberechtigten beherbergen und abgelehnte Asylbewerber zurück in ihre Heimat befördern.
Für die Staaten in der Mitte der EU war das bequem. Doch auch die Außenstaaten, obwohl einige von ihnen die Vereinbarung schon damals als unfair bezeichneten, legten keinen Protest ein, geschweige denn, dass sie ihre Unterschrift verweigerten. Warum nicht?
Die Zahl der Flüchtlinge und Migranten war seinerzeit so verschwindend gering, dass niemand in der fehlenden Verteilungsregelung ein großes Problem sah. Und keiner hielt es vor zwanzig, dreißig Jahren für möglich, dass sich eines Tages binnen weniger Monate mehr als eine Million Menschen auf die Flucht nach Europa begeben könnten. Außerdem scherten sich Außengrenzstaaten wie etwa Italien nicht groß um das Vereinbarte. Schutzsuchende wurden einfach nach Norden durchgewinkt, manchmal sogar mit einem Zugticket in der Hand. Begehrte Zielländer der Flüchtenden wie Deutschland oder Schweden ärgerten sich zwar über diesen Vertragsbruch, protestierten aber wegen der geringen Zahl an Betroffenen nicht besonders laut.
Alles ist geregelt, kaum jemand hält sich daran
Das hat sich mit dem Flüchtlingsherbst 2015 schlagartig geändert. Plötzlich pochen die einen auf Einhaltung des Dublin-Vertrags – und die Außengrenzstaaten beschweren sich über die ihnen aufgebürdeten Lasten.
Nirgendwo sind die Mitglieder der Europäischen Union seither zerstrittener als beim Asylrecht. Dabei geht es nicht nur um die Dublin-Regeln. Auch wenn im Grunde so gut wie alles in den EU-Verträgen geregelt ist, hält sich kaum jemand daran: weder an die rechtlichen Voraussetzungen für die Erteilung eines positiven Asylbescheids noch an die Art und Weise der Versorgung und menschenwürdigen Unterbringung von Flüchtlingen. Und die fehlende Verteilung anerkannter Asylbewerber ist nach wie vor ein riesiger Zankapfel.
Vergangene Woche plädierte Innenminister Seehofer darum noch einmal für ein einheitliches – verbindliches! – Asylrecht. Der Kern seines Vorschlags: Alle Asylbegehren sollten bereits an den Außengrenzen der EU geprüft und entschieden werden – aber nicht zu absoluten Lasten dieser Staaten. Eine Koalition der Willigen sollte vorangehen und die an den Grenzen der EU anerkannten Asylbewerber – nach noch festzulegenden Quoten – untereinander verteilen und aufnehmen. Außerdem sollte die EU-Grenzschutzagentur Frontex dafür sorgen, dass abgelehnte Asylbewerber zurück in ihre Heimat gebracht werden.
Doch mit diesem Vorschlag verhält es sich wie mit der Idee von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer zur Errichtung einer Schutzzone für Flüchtlinge in Nordsyrien: Die Idee ist gut, aber nicht gut durchdacht. Vor allem hat sie derzeit kaum eine Chance auf Realisierung. Warum nicht?
Fehlender Wille zur Vergemeinschaftung
Selbst wenn EU-Außenstaaten wie Italien oder Griechenland permanent ihre Überlastung beklagen, bestehen sie doch beinhart auf ihrer nationalen Souveränität und möchten sich von niemandem, auch nicht von Brüssel, dazwischenfunken lassen. Seehofers Vorschlag aber hätte genau das zur Folge: einen Teilverzicht auf nationale Hoheitsgewalt. Denn würden alle Anträge an den EU-Außengrenzen entschieden, bräuchte man dafür, erstens, einheitliche Maßstäbe. Die gibt es zwar, wie gesagt, auf dem Papier, aber in der Praxis hält sich kein Staat daran. Die Gewährung von Asyl ist innerhalb der Europäischen Union immer noch Angelegenheit jedes einzelnen Staats – und darum oft Glückssache. Wie die EU-Statistikbehörde Eurostat eindrucksvoll belegt, variieren die Anerkennungsquoten von Land zu Land dramatisch.
Zweitens: Neben einheitlichen Entscheidungskriterien bräuchte man auch eine gemeinsame Asylbehörde, die an den Außengrenzen darüber befindet, wem Schutz gebührt und wem nicht. Auch diese Behörde gibt es bereits – und zwar in Form des Europäischen Unterstützungsbüros Easo. Doch wie der Name bereits sagt, handelt es sich dabei um ein Amt, das den nationalen Asylbehörden lediglich unter die Arme greift, aber niemals an deren Stelle tritt. Denn die Entscheidung über die Gewährung von Asyl wollen die Nationalstaaten nach wie vor in absoluter Eigenverantwortung fällen.
Im Alltag führt das oft zu großem Frust bei den Easo-Beamten. So wurden Mitarbeiter der Behörde zum Beispiel um Mithilfe in griechischen Aufnahmezentren gebeten. Sie rackerten sich ab, führten am laufenden Band Interviews mit Geflohenen, bereiteten die Asylbescheide akribisch vor; am Ende aber wurden sie immer wieder durch nationale griechische Behörden ausgebremst und mussten zusehen, wie der Berg nicht entschiedener Asylanträge von Tag zu Tag wuchs.
Ähnlich verhält es sich mit der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Auch sie hat so gut wie keine eigene exekutive Macht. Die liegt nach wie vor in den Händen der jeweiligen nationalen Polizeien und Grenzschutzbehörden. Auch auf diese Macht möchten EU-Mitglieder bislang nicht verzichten.
Ein weiterer Haken des Seehofer-Vorschlags: Selbst wenn Easo entscheiden dürfte, wann anerkannte Asylbewerber verteilt und die abgelehnten von Frontex abgeschoben würden – was geschähe mit jenen Menschen, die nicht in ihre Heimat zurückgeschickt werden können? Weil zum Beispiel die Lebensbedingungen dort unzumutbar sind, weil sie ihre Papiere verloren oder vernichtet haben? Weil der Heimatstaat es ablehnt, sie zurückzunehmen? Wer nimmt sich ihrer an und sorgt für sie? Seehofers angedachte Koalition der Willigen? Oder doch der EU-Außenstaat, in dem die Flüchtlinge registriert und in dem ihre Anträge abschlägig beschieden wurden? Darüber wird man sich kaum einigen können.
So wünschenswert ein einheitliches Asylsystem auch wäre, es scheiterte seit Anbeginn am fehlenden Konsens über die Verteilungsfrage. Daran werden Horst Seehofers Vorschläge leider kaum etwas ändern. Darum wird auch in Zukunft gelten: weiter durchwursteln, so gut es geht.