Sigmar Gabriel deklarierte seine Forderung vorsorglich als seine eigene Meinung. “Ich weiß, dass die offizielle Position eine andere ist”, hatte der Außenminister bei einem Wirtschaftstreffen mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz vorweggeschoben. Und dann vorgeschlagen: Bei Fortschritten im Konflikt in der Ostukraine – so dem Abzug schwerer Waffen – könnten die von der EU gegen Russland verhängten Sanktionen schrittweise gelockert werden.
Das Problem: Gabriels Ideen entsprechen zumindest aus Sicht der Union nicht dem Geist des neuen Koalitionsvertrags. Nachdem in der “Bild am Sonntag” der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Norbert Röttgen, die Vorschläge zurückgewiesen hatte, legte der Unions-Vizefraktionsvorsitzende Johann Wadephul nach. “Die Forderung widerspricht dem Ergebnis der Koalitionsverhandlungen”, sagte er. “Auch ein geschäftsführender Außenminister kann nicht zwischen einer offiziellen und seiner Meinung unterscheiden. Verlässlichkeit gehört zu dessen Aufgabenbeschreibung”, so Wadephul.
Sein Parteikollege Röttgen hatte zuvor erklärt, solange die russische Regierung nicht die Minsker Vereinbarung umsetze, sei ein Entgegenkommen bei den Sanktionen ein völlig falsches Signal. Dadurch würde der russische Präsident Wladimir Putin ermutigt, nichts an seiner Politik zu ändern.
Unterschiedliche Interpretation des Koalitionsvertrags
Im neuen Koalitionsvertrag heißt es ausdrücklich, Deutschland und Frankreich würden sich weiter intensiv für die Lösung des Konflikts in der Ostukraine und die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen einsetzen. Sowohl Russland als auch die Ukraine müssten ihre Verpflichtungen aus den Minsker Vereinbarungen erfüllen. Zu einem möglichen Ende der Sanktionen halten die Koalitionspartner fest: “Bei Umsetzung der Minsker Vereinbarungen sind wir zu einem Abbau der Sanktionen bereit und werden darüber einen Dialog mit unseren europäischen Partnern führen.”
Auf diesen Wortlaut beruft sich die Union bei ihrer Kritik am Minister, zumal Gabriel in der Arbeitsgruppe zur Außenpolitik in die Koalitionsgespräche mit einbezogen war. Allerdings war um diese Formulierung länger gerungen worden. Entsprechend interpretationsfähig sei sie auch und schließe einen schrittweisen Abbau von Strafmaßnahmen nicht aus, hieß es am Sonntag aus der SPD gegenüber dem SPIEGEL.
Von seinen Genossen wurde Gabriel – dessen Amtsverbleib in einer neuen Koalition nicht sicher ist – bei seinem jüngsten Sanktionsvorstoß deshalb auch verteidigt. “Der neue Koalitionsvertrag schließt aus Sicht der SPD nicht ausdrücklich eine schrittweise Lockerung der Sanktionen aus, sofern es Fortschritte bei der Erfüllung des Minsker Vertrags gibt und darüber eine Verständigung mit unseren EU-Partnern erfolgt. Insofern verstehe ich die Kritik der Union an Sigmar Gabriel nicht”, sagte am Sonntag der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Niels Annen, zum SPIEGEL.
Kritik aus der CDU an der Verlässlichkeit von Gabriel
Die Union beharrt jedoch auf einer engen Auslegung. “Eine schrittweise Lockerung der Sanktionen kommt für uns nicht in Betracht. Von Minsk ist noch nichts umgesetzt”, sagte der CDU-Politiker Wadepuhl. Mit Blick auf Forderungen nach einer vollen Umsetzung des Minsker Vertrags hatte Gabriel hingegen in München erklärt: “Ich halte das für keine sehr realistische Position.”
Gabriels Position ist nicht neu. Bereits als Wirtschaftsminister hatte er sich 2016 für schrittweise Lockerungen der EU-Sanktionen ausgesprochen, auch der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) verfolgte vor zwei Jahren eine ähnliche Linie und erklärte, wenn man signifikante Fortschritte erreiche, spreche aus seiner Sicht “nichts dagegen, die Sanktionen sukzessive zu lockern”.
Im vergangenen September hatte der Außenminister seine frühere Idee dann wieder aufgegriffen, nachdem Russlands Präsident Wladimir Putin sich für eine Uno-Blauhelm-Mission in der Ukraine ausgesprochen hatte. Man müsse die Lockerung der Sanktionen wegen des Ukrainekonflikts nicht zwangsläufig an die Erfüllung des Minsker Friedensabkommens koppeln, sagte Gabriel schon damals. Wadephul hingegen mahnte, dass Russland bei einem Blauhelm-Einsatz in der Ostukraine auch einer Überwachung der ukrainisch-russischen Grenze zustimmen müsse. “Sonst bleibt die Mission sinnlos”, so der CDU-Politiker.
Ließ Gabriel Ukraine-Gespräche wegen Yücel-Pressekonferenz in Berlin platzen?
Unterdessen sorgte auf der Sicherheitskonferenz die Absage des Ukraine-Treffens für Spekulationen unter Medienvertretern. Ursprünglich sollte es in München zum ersten Außenministertreffen nach einem Jahr kommen. Im Zentrum steht die Frage, ob Gabriel das Gespräch mit seinen Amtskollegen aus Russland, der Ukraine und Frankreich platzen ließ, um nach der Freilassung des deutschtürkischen “Welt”-Journalisten Deniz Yücel an einer Pressekonferenz im Newsroom der Zeitung in Berlin teilnehmen zu können. Die “Bild am Sonntag” schrieb, einige Diplomaten hätten über diese Prioritätensetzung den Kopf geschüttelt.